Anhand der fünf Lerndispositionen können bereits vorhandene Kompetenzen bei Kindern schnell erfasst, analysiert und gefördert werden.
In der pädagogischen Theorie und Praxis war es lange üblich den Entwicklungsstand eines Kindes anhand von Defiziten einzuordnen. Die Frage lautete lange: Was kann ein Kind (noch) nicht?
Die Neuseeländerin Margaret Carr entwickelte in den 1990er-Jahren einen völlig gegensätzlichen Ansatz, welcher die bereits vorhandenen Kompetenzen eines Kindes in den Fokus rückte. Die fünf Lerndispositionen nach Carr bilden die Grundlage für alle Selbstbildungsprozesse und sorgen dafür, dass ein Kind überhaupt in der Lage ist sich weiter zu entwickeln und seine (Handlungs-)Kompetenzen zu erweitern.
Ausgehend von den Lerndispositionen entwickelte Carr die „Bildungs- und Lerngeschichten“ als pädagogisch zeitgemäße Form der wertschätzenden und stärkenorientierten Entwicklungsdokumentation.
Definition Lerndispositionen – Ausgangspunkt ist das kindliche Tun
Lerndispositionen sind fünf wichtige Aspekte des kindlichen Handelns, anhand derer sich in jeder Situation die individuellen Voraussetzungen für Entwicklungsprozesse beobachten und bewerten lassen.
Es geht nicht darum, was ein Kind kann oder nicht kann, sondern darum wie es handelt, interagiert und Probleme löst. So erfolgt die Einschätzung des Entwicklungsstandes weniger subjektiv, Stärken und Kompetenzen rücken in den Vordergrund. Insgesamt ist die Orientierung an den Lerndispositionen eher prozess- als ergebnisorientiert.
Was sind Lerndispositionen?
Carr beschreibt 5 Lerndispositionen, anhand derer pädagogische Fachkräfte das Entwicklungspotenzial von Kindern im Kita-Alter beschreiben und bewerten können:
- Interesse zeigen: Das Kind interessiert sich für ein Thema und zeigt sein Interesse deutlich
- Engagiert sein: Das Kind bleibt „am Ball“, ist in sein Tun vertieft, handelt aktiv
- Herausforderungen und Schwierigkeiten meistern: Das Kind entwickelt Problemlösungstrategien, lässt sich nicht beirren, zeigt Konzentration
- Mitteilungsbedürfnis und Ausdrucksmöglichkeiten entwickeln: Das Kind möchte sich artikulieren, es sucht altersgerechte Wege der Kommunikation, will mit anderen (über sein Tun) ins Gespräch kommen
- Mitwirkung und Übernahme an Verantwortung innerhalb einer (Lern-) Gruppe: Das Kind möchte eine aktive Rolle innerhalb der Gruppe einnehmen und findet Wege dies zu tun, es leitet andere an, liefert Ideen und Anregungen, gibt Hilfestellung
Alle Lerndispositionen können bei jedem Kind in unterschiedlichsten Situationen des Alltags beobachtet werden. Dabei liegt der Fokus weniger darauf, ob ein Kind eine bestimmte Lerndisposition zeigt, sondern darauf wie diese ausgeprägt ist. Cars Ansatz ist ressourcenorientiert, es geht nicht darum herauszufinden ob ein Kind schneiden, in ganzen Sätzen sprechen oder Zahlen erkennen kann. Vielmehr wird von den pädagogischen Fachkräften verlangt genau hinzuschauen, wertfrei zu beobachten und sich Zeit zu nehmen das Kind als Persönlichkeit mit eigenem Entwicklungstempo und Individuellen Interessen und Stärken wahrzunehmen.
Lerndispositionen – Beispiel und Analyse anhand einer fiktiven Situation
Am besten lassen sich die Lerndispositionen anhand eines kurzen Fallbeispiels erkennen und analysieren. Dir werden ähnliche Situationen mehrfach jeden Tag in der pädagogischen Praxis begegnen:
Elisa (5,5) ist Vorschulkind in der Kita Sonnenschein. Zur Zeit interessiert sie sich besonders für Buchstaben. Heute beschäftigt sie sich damit die Namen der Kinder aus ihrer Gruppe von den Schubladen abzuschreiben, in denen diese ihre gemalten Bilder aufbewahren.
Elisa lässt sich auch durch den Lärm in der Gruppe nicht ablenken, sie geht konzentriert und gezielt vor, in dem sie die Schubladen lange betrachtet, sich den jeweiligen Namen einprägt der darauf steht und diesen anschließend aus dem Gedächtnis auf ein Blatt Papier schreibt.
Als Ben (6,2) erklärt, er wolle nicht, dass Elisa seinen Namen abschreibt, versucht diese zunächst das ältere Kind zu überzeugen und in ihr Tun miteinzubeziehen:
„Warum lässt du mich das nicht machen? Ich fasse deine Schublade ja gar nicht an! Oder vielleicht kannst du mir ja helfen?“
Ben lässt sich nicht überzeugen. Er stellt sich demonstrativ vor seine Schublade. Daraufhin erklärt Elisa:
„Ok, dann eben nicht. Dann schreibe ich eben die anderen Namen ab.“
Später im Stuhlkreis stellt Elisa ihr Ergebnis den anderen Kindern und den pädagogischen Fachkräften vor. Auch Ben ist nun sehr interessiert. Am nächsten Tag versucht er sich selbst am Abschreiben der Buchstaben.
Elisa ist interessiert und engagiert. Sie widmet sich ihrem Thema, den Buchstaben, arbeitet konzentriert und zielstrebig (Lerndispositionen 1 und 2).
Sie ist vertieft sich in ihr Tun und lässt sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als ein anderes Kind sie stört. Anstatt sich entmutigen zu lassen findet sie einen Kompromiss und vermeidet einen drohenden Konflikt (Lerndisposition 3).
Elisa ist stolz darauf, was sie erreicht hat und möchte das Ergebnis ihres konzentrierten Arbeitens mit anderen teilen (Lerndisposition 4).
Sie wird zum Vorbild für andere Kinder, in dem sie ihnen Anregungen und Impulse liefert. (Lerndisposition 5).
Der Umgang mit Lerndispositionen in Theorie und Praxis – Anregungen und Ideen
Wie lassen sich nun die Theorie Carrs und der Ansatz der fünf Lerndispositionen für die pädagogische Arbeit nutzen?
Zunächst einmal geht es darum sich klar zu machen, dass der Blick auf das Kind oft zu wertend und defizitorientiert ist. Das fließt auch in die Bildungs- und Entwicklungsdokumentationen ein, für die häufig nur standardisierte Beobachtungsbögen genutzt werden. In diesen geht es aber nur darum festzustellen, was ein Kind in welchem Alter vermeintlich können sollte und was es eben noch nicht kann.
Wenn du dir jedoch die Mühe machst ein Kind genauer zu beobachten und kannst du mit Hilfe der fünf Lerndisposition herausfinden wo es gerade wirklich in seiner Entwicklung steht.
Du
- erfährst etwas über die Interessen des Kindes,
- kannst erkennen, ob es seinen Platz innerhalb der Gruppe gefunden hat,
- kannst Rückschlüsse im Hinblick auf Ausdauer und Konzentration ziehen,
- bist in der Lage, Sprachentwicklung und Ausdrucksfähigkeit besser einzuschätzen,
- erlebst das Kind im Kontakt mit anderen,
- bekommst die Möglichkeit, die individuellen Kompetenzen des Kindes zu analysieren
Wenn du deine Beobachtungen ausgewertet hast, lassen sich daraus konkrete pädagogische Handlungsstrategien ableiten. Elisa aus unserem Fallbeispiel braucht offensichtlich kaum Unterstützung wenn es darum geht ihre Interessen zu verfolgen, ihre Stärken zu erkennen und sich kontinuierlich weiter zu entwickeln. Sie ist selbstständig und sozial sehr kompetent. Allerdings könnte ihr das bloße Abschreiben von Buchstaben bald zu langweilig werden – sie braucht dann neue Anregungen und Herausforderungen in Form einer vorbereiteten Umgebung (Sprach- und Buchstabenspiele, Anlauttabelle, Arbeitsblätter usw.).
Wenn du dich bei der Lern- und Entwicklungsdokumentation an den 5 Lerndispositionen nach Carr orientieren möchtest, solltest du dir für jedes Kind entsprechende Vorlagen für die freie Beobachtung erstellen.
Weitere ausführliche Informationen zur Portfolioarbeit sowie Anregungen zur praktischen Umsetzung (Lerngeschichten, Kinderinterview, Entwicklungsstern zu den Lerndispositionen usw.) findest du unter folgendem Link:
https://www.soziales.bremen.de/sixcms/media.php/13/LED_2010.pdf
https://www.shutterstock.com/editor/image/creative-kids-arts-crafts-classes-after-1481283884