Doktorspiele in der Kita

Es gibt Situationen in denen selbst erfahrene pädagogische Fachkräfte nicht weiter wissen. „Doktorspiele“ oder besser „Körpererkundungsspiele“ sind solche Szenarien. Dass kindliche Sexualität existiert und dass es normal ist, wenn Kinder ihren eigenen Körper erkunden und sich gleichzeitig für den anderer Kinder interessieren ist sicher heute allen pädagogischen Fachkräften bekannt. Wird es in der Praxis aber dann konkret sind viele Erzieher*innen verunsichert und fragen sich, was sie denn nun eigentlich tun müssen. Soll man die Kinder einfach „machen“ lassen? Muss das Thema mit allen besprochen werden? Was werden die Eltern dazu sagen? Und was ist eigentlich im Hinblick auf kindliche Doktorspiele noch normal und wo muss eingegriffen werden?

Weil das Thema „Doktorspiele“ trotz aller Aufklärung häufig Kontroversen und Konflikte mit sich bringt, möchten wir an dieser Stelle versuchen dir einerseits fundiertes Wissen rund um die kindliche Sexualentwicklung zur Verfügung zu stellen und dir gleichzeitig Tipps geben, wie du professionell reagierst und alle Beteiligten einbeziehst, wenn Doktorspiele im Kindergarten stattfinden.

 

Doktorspiele im Kindergarten – was ist normal?

 

Anna (5) und Amira (4) sind beste Freundinnen. Am liebsten spielen sie in der Puppenecke, die sich im an den Gruppenraum angrenzenden Nebenraum befindet. Weil die beiden Mädchen sehr zuverlässig sind und es selten Streit gibt sieht ihre Erzieherin Steffi keine Veranlassung häufig nach den beiden zu sehen.

Da kommt plötzlich Mike (5) zu Steffi gelaufen und berichtet, dass sich Anna und Amira ausgezogen haben und sich gegenseitig überall anfassen. Steffi, die gerade erst ihr Berufspraktikum beendet hat, ist verunsichert: Wie soll sie jetzt reagieren? Sie weiß, dass Doktorspiele bei Kindern normal sind, aber im Kindergarten sollten die doch besser nicht stattfinden, oder? Außerdem hat sie Angst, wie Amiras Eltern reagieren werden, wenn sie davon erfahren. Diese sind aufgrund ihres Glaubens sehr konservativ. Was also soll Steffi nun tun?

 

So wie Steffi in unserem Fallbeispiel geht es vermutlich täglich vielen pädagogischen Fachkräften und zwar häufig auch unabhängig vom Alter und von der Berufserfahrung. Niemand würde sich daran stoßen, wenn die Kinder ihre Puppen ausziehen und deren Körper genauer untersuchen würden, sobald sie dies aber gegenseitig tun klingeln für viele Erzieher*innen die Alarmglocken.

Dabei tun Anna und Amira nicht falsches: Sie mögen sich und sind neugierig darauf, wie die jeweils andere ohne Kleidung aussieht. Wahrscheinlich empfinden sie es als angenehm sich gegenseitig zu berühren, sonst würden sie es nicht tun.

Kinder sind sexuelle Wesen, auch wenn kindliche Sexualität nichts mit der von Erwachsenen zu tun hat. Es geht nicht um Lustgewinn und Befriedigung, sondern um Neugier, Nähe und um das Kennenlernen des eigenen Körpers. Kinder im Kita-Alter haben (in den meisten Fällen) schon verinnerlicht, dass sie ein Mädchen oder ein Junge sind und welche körperlichen Merkmale sie vom anderen Geschlecht unterscheiden. Was das konkret bedeutet wollen sie aber selbst herausfinden.

Jedes Baby fängt irgendwann an den eigenen Körper mit den Händen zu erkunden und macht natürlich auch nicht vor seinen Geschlechtsteilen halt. Es fühlt sich einfach gut an, wenn es seinen Penis oder seine Scheide berührt. Kindliche Sexualität ist also angeboren und ganz natürlich.

Und genau das sollte Steffi berücksichtigen wenn es darum geht mit der Situation professionell umzugehen. Vielleicht schaut sie kurz nach den Mädchen und erinnert sie noch einmal an die Regeln für Doktorspiele (nichts wird in irgendwelche Körperöffnungen gesteckt aufgrund der Verletzungsgefahr, jedes Kind darf das Spiel beenden, wenn es nicht mehr spielen mag usw.). Wenn die Kinder abgeholt werden erzählt Steffi den Eltern sachlich von deren Spiel, eventuell gibt sie ihnen zum Thema „Doktorspiele im Kindergarten“ eine Broschüre mit (siehe unten).

 

Tipp: Wichtig ist, dass bei den Eltern nicht der Eindruck entsteht die Kinder hätten etwas unanständiges oder falsches getan. Körpererkundungsspiele sind für die individuelle Sexual- und Persönlichkeitsentwicklung ebenso wichtig wie das Malen oder der richtige Umgang mit der Schere für die Entwicklung der Feinmotorik. Wenn Kinder das Gefühl haben, dass sie sich für ihr Tun schämen müssen, dann vertrauen sie sich vielleicht auch keinem Erwachsenen an, wenn sie wirklich Hilfe brauchen.

 

Psychosexuelle Entwicklung und Doktorspiele im Kindergartenalter

 

Kinder sind von Geburt an interessiert an ihrem Körper. Die psychosexuelle Entwicklung beginnt genau genommen sogar noch früher, nämlich im Mutterleib, wenn sich die Geschlechtsteile herausbilden. Sobald Babys dann in der Lage sind ihre Hände gezielt einzusetzen beginnen sie zuerst damit den eigenen Körper zu erkunden. Sie tun das, wie sie später auch ihre Umgebung kennenlernen und sich Wissen aneignen: mit allen Sinnen, spontan, völlig unbefangen, spielerisch und nicht zielgerichtet.

Kindliche Sexualität unterscheidet sich damit grundlegend von der Sexualität Erwachsener, die absichtsvoll und in erster Linie auf genitale Stimulation ausgerichtet ist:

 

Kindliche Sexualität Sexualität Erwachsener
spontan, im  Spiel auf das Ziel der sexuellen Befriedigung hin ausgerichtet
nicht geplant, zukünftige Handlungen spielen keine Rolle geplant, absichtsvoll
auf die eigenen Interessen und Bedürfnisse ausgelegt an die Beziehung zu anderen Menschen anknüpfend
dem Wunsch nach Geborgenheit und Nähe entsprechend Dem Wunsch nach Befriedigung und Erregung entsprechend
frei und unbefangen Befangen und reglementiert
sexuelle Handlungen werden nicht als solche verstanden Bewusster Umgang mit sexuellen Handlungen

 

 

Gerade in den ersten sechs Lebensjahren durchlaufen Kinder in ihrer psychosexuellen Entwicklung viele wichtige Stufen:

 

Erstes Lebensjahr:

 

Durch körperliche Nähe entwickelt das Kind Urvertrauen. Es fordert Zuwendung aktiv ein um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die Umwelt wird mit allen Sinnen erkundet – zunächst, in dem Hände und Mund zum Einsatz kommen („orale Phase“ nach Siegmund Freud).

 

Zweites und drittes Lebensjahr:

 

Der eigene Körper und seine Funktionen wird bewusst erkundet, auch die Geschlechtsteile. Die eigenen Berührungen empfindet das Kind als angenehm. Gleichzeitig erweitert sich der Wortschatz des Kindes, es lernt die Bezeichnungen der einzelnen Körperteile kennen.

 

Viertes und fünftes Lebensjahr:

 

Kinder lernen Geschlechterrollen kennen und verstehen und setzen sich spielerisch in Rollenspielen damit auseinander. Das Interesse am eigenen Körper ist nach wie vor vorhanden, aber nun wird auch der Körper der anderen Kinder interessant. Doktorspiele kommen in diesem Alter besonders oft vor, wobei gleichzeitig auch das Schamgefühl wächst. Es kommen erste Fragen zum Thema Fortpflanzung.

 

Sechstes und siebtes Lebensjahr:

 

Das Thema „Liebe“ und „Verliebtsein“ spielt eine immer größere Rolle. Die meisten Kinder identifizieren sich mit einer Geschlechterrolle.

Das Schamgefühl ist nun deutlich ausgeprägt, viele Kinder fordern mehr und mehr Privatsphäre ein und möchten sich nicht vor anderen Kindern und/oder Erwachsenen ausziehen.

 

Umfangreiches Fachwissen zum Thema findest du auch hier:

 

https://www.kindergartenpaedagogik.de/images/PDF/Kindliche_Sexualentwicklung_KR.pdf

 

Regeln für Doktorspiele im Kindergarten – Grenzen und Grenzverletzungen

 

Grundsätzlich sollten Erwachsene verinnerlichen, dass Doktorspiele und Körpererkundungsspiele nichts anrüchiges haben und auf keinen Fall negativ besetzt sein sollten. Sie können, wenn Regeln eingehalten werden, zu einer gesunden psychischen und psychosexuellen Entwicklung beitragen. Kinder lernen, dass sexuelle Selbstbestimmung wichtig ist und dass Sexualität schöne und angenehme Gefühle hervorruft.

Wichtig ist aber, dass alle Handlungen freiwillig geschehen, dass kein Machtgefälle entsteht und sich kein Kind unter Druck gesetzt fühlt. Die individuellen Grenzen müssen immer berücksichtigt werden und kein Kind darf sich oder andere verletzen.

 

Daher gilt:

  • Der Altersunterschied zwischen an Doktorspielen beteiligten Kindern im Kindergarten sollte nicht mehr als ein bis zwei Jahre betragen.
  • Der Entwicklungsstand der einzelnen Kinder muss berücksichtigt werden – auch zwischen Kindern gleichen Alters kann es ein Entwicklungs- und Machtgefälle geben, z.B. wenn ein Kind Doktorspielen nur zustimmt, weil es einem anderen gefallen möchte.
  • Jedes Kind entscheidet selbst, ob, wie lange und mit wem es Doktorspiele spielen möchte. Es kann das Spiel jederzeit beenden und darf entscheiden, wie weit es gehen möchte.
  • Die Kinder dürfen sich jederzeit Hilfe von Erwachsenen holen, wenn sie sich von der Situation überfordert fühlen.
  • Es wird nichts in Körperöffnungen gesteckt.
  • Doktorspiele im Kindergarten können nur in einem geschützten Raum stattfinden, zum Beispiel in der Puppenecke, in der Kuschelecke usw.

 

Es ist wichtig, dass die oben genannten Regeln allen Kindern, Fachkräften und den Eltern jederzeit bekannt sind. Ein transparenter Umgang mit dem sexualpädagogischen Konzept und dessen Umsetzung ist gerade bei diesem für viele Erwachsenen heiklen Thema sehr wichtig. Andernfalls werden die einen Kinder schnell zu Opfern und andere zu Tätern deklariert, was höchst fragwürdig ist, da es sich um negativ besetzte Begrifflichkeiten aus dem Bereich des sexuellen Missbrauchs handelt. Viele Eltern, aber auch Pädagogen, die sich mit der Thematik noch nicht auseinandergesetzt haben, vermischen dann kindliche Sexualität und sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen.

Es kann sexuelle Grenzverletzungen und übergriffiges Verhalten bei Doktorspielen im Kindergarten zwischen Kindern im Kita-Alter geben, aber das macht Kinder, die grenzverletzendes oder übergriffiges Verhalten zeigen nicht zu Tätern!

 

Doktorspiele im Kindergarten und Aufsichtspflicht

 

Bei aller Freiheit, die Kinder im im Hinblick auf ihre psychosexuelle Entwicklung haben sollen, müssen Erzieher*innen selbstverständlich auch in Bezug auf Doktorspiele im Kindergarten ihrer Aufsichtspflicht nachkommen. Dabei geht es nicht darum die Kinder zu kontrollieren, sondern dafür zu sorgen, dass sexuelle Grenzverletzungen oder übergriffiges Verhalten unterbunden werden. Wichtig: Es geht in diesem Zusammenhang nicht um sexuellen Missbrauch! Experten raten zudem, nicht von „Tätern“ und „Opfern“, sondern von „übergriffigen“ und „betroffenen“ Kindern zu sprechen. Ein grenzverletzendes Verhalten liegt zum Beispiel vor, wenn Druck auf Kinder ausgeübt wird („Wenn ich deine Scheide nicht sehen darf bist du nicht mehr meine Freundin.“).

Bei übergriffigem Verhalten wird Gewalt angewendet, es kommt zu Verletzungen. In beiden Fällen müssen selbstverständlich pädagogische Konsequenzen folgen, allerdings ohne übergriffige Kinder zu stigmatisieren oder Dinge zu vertuschen. Daher ist es wichtig, dass Kinder lernen die Dinge beim Namen zu nennen und dass die Regeln für Doktorspiele im Kindergarten immer wieder besprochen werden - auch dann, wenn es keinen konkreten Anlass dafür gibt.

 

Konzeptionelle Arbeit zum Thema Doktorspiele bei Kindern im Kindergarten

 

Wenn es um Doktorspiele im Kindergarten geht sind sich selbst eingespielte Teams häufig nicht einig: Was darf man zulassen und was nicht? Wie sieht es mit der Aufsichtspflicht bei Doktorspielen im Kindergarten aus? Wie erklärt man Kindern, wo die Grenzen sind, wenn sie sich gegenseitig erkunden möchten? Und vor allem: Wie kommt man mit Eltern im Hinblick auf das Thema ins Gespräch?

Zunächst einmal ist es sinnvoll, dass sich alle fragen, was die eigenen Ansichten und Empfindungen sind. Die darf dann jeder ohne Bewertung durch die Kolleg*innen kundtun. Die eigene Erziehung hat hier, wenn auch oft unbewusst, enormen Einfluss. Außerdem: Natürlich ist unsere Gesellschaft offen und frei, wenn es um Sexualität geht. Weil aber immer häufiger Fälle von sexuellem Missbrauch bekannt werden und in den Medien das Thema Kinderpornografie die Öffentlichkeit schockiert sind viele Erwachsene, Eltern wie pädagogische Fachkräfte, extrem sensibilisiert, gleichzeitig aber auch hochgradig verunsichert. War es vor 30 Jahren noch völlig normal, dass Mütter und Väter ihre Kinder nackt am Strand spielen ließen, so wird dies heute kontrovers diskutiert. Dass kindliche Sexualität rein gar nichts mit den sexuellen Vorlieben und Bedürfnissen von Erwachsenen zu tun hat wird dabei häufig vergessen. Für Kinder ist das Interesse am eigenen Körper und an dem der anderen nichts anderes als Neugier. So wie ein Kind erfahren möchte, wie es sich anfühlt wenn man Knete in den Händen hält, so will es auch wissen, welche Gefühle es hervorruft wenn man sich an der Scheide oder am Penis berührt.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist es anschließend wichtig, dass man sich auf eine gemeinsame Linie für ein sexualpädagogisches Konzept einigen kann. Folgende Leitfragen helfen dabei:

 

  • Welches Vokabular nutzen wir in unserer Einrichtung, wenn es um die Benennung von Geschlechtsteilen geht?
  • Wie viel Privatsphäre gestehen wir den Kindern zu?
  • Wie gehen wir mit dem Nacktsein um? Dürfen sich die Kinder in bestimmten Situationen ausziehen, z.B. im Sommer im Garten? Wo ziehen sich Kinder um, wenn sie schlafen gehen? Was tragen sie zum Schlafen?
  • In welchem Rahmen sind Doktorspiele in unserer Einrichtung erlaubt (zum Beispiel nur in der Puppenecke, Kleidung muss an bleiben usw.)
  • Welchen Stellenwert nimmt die Sexualpädagogik in unserem Konzept ein? Muss die Konzeption eventuell überarbeitet werden?
  • Wie können wir Eltern Wissen und Sicherheit im Umgang mit kindlicher Sexualität vermitteln? (zum Beispiel durch Elternabende, die von Experten auf dem Gebiet durchgeführt werden, Info-Material usw.)

 

Wichtig ist, dass das Team geschlossen aufritt, wenn es um das Thema Sexualerziehung und psychosexuelle Entwicklung geht. Das nimmt auch Eltern Ängste und Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Thema. Bewährt haben sich regelmäßige Elternabende, zu denen im Idealfall Expert*innen eingeladen werden, die alle Fragen kompetent beantworten können.

 

Tipp: Zum Schluss möchten wir dir noch folgende Broschüre ans Herz legen, die anschaulich alle Fragen rund um Doktorspiele im Kindergarten beantwortet:

 

https://www.petze-institut.de/wp-content/uploads/2021/09/Doktorspiel-Broschüre_WEB.pdf

 

Bild: shutterstock_412454962

 

 

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