Bindungstheorie nach John Bowlby

Die Bindung zwischen Eltern und Kind ist eine ganz besonders innige - gerade in den ersten Lebensmonaten und Lebensjahren. Die bedeutendsten Forscher, die sich mit Bindung und Bindungstheorien beschäftigen, waren John Bowlby (1907 – 1990) und Mary Ainsworth (1913 – 1999). Bowlby beschrieb als erster, dass es ein unsichtbares Band zwischen Kind und den engsten Bezugspersonen gibt, das eine grundlegende Bedeutung für dessen weitere Entwicklung hat. Dieses Band besteht auch dann weiter, wenn es eine zeitliche oder räumliche Trennung gibt. Längere Trennungen, so Bowlby, sind traumatisch für Kleinkinder und können für das Kind negative psychische Folgen haben.
Mary Ainsworth spricht in diesem Fall von der „sicheren Basis“, die Eltern für ihr Kind darstellen. Zudem konnte sie in zahlreichen Studien nachweisen, dass sich Bindungen im Hinblick auf ihre Qualität von einander unterscheiden.
Bowlbys und Ainsworths Theorien haben enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Kinder unter drei Jahren in Krippen eingewöhnt werden sollten, damit sie diesen Prozess nicht als schmerzhaft und traumatisch empfinden. Es geht darum, dass das Kind zunächst in Anwesenheit der Mutter die neue Umgebung kennenlernt und ein immer ausgeprägteres Explorationsverhalten zeigt. Während dieser Zeit versucht die jeweilige Bezugserzieherin, Kontakt mit dem Kind aufzunehmen und sein Vertrauen zu gewinnen. Ist das geschehen, verabschiedet sich die Mutter für eine kurze Zeit vom Kind und lässt es allein. Wenn die Bindung zur Erzieherin bereits tragfähig genug ist, lässt sich das Kind von ihr trösten, wenn es den Weggang der Mutter realisiert. Die meisten Eingewöhnungsmodelle wie das „Münchner Modell“ oder das „Berliner Modell“ basieren auf den Bindungstheorien von John Bowlby und Mary Ainsworth und sind in der heutigen Zeit, in der immer mehr Kinder unter drei Jahren fremdbetreut werden, weil die Eltern berufstätig sind, aktueller denn je.

 

Wie entstehen Bindungen zwischen Eltern und Kind?

 

Ein Baby ist klein, niedlich und wirkt auf Erwachsene hilflos. Dieses sogenannte „Kindchenschema“ fungiert als Schlüsselreiz, es erweckt in Müttern und Vätern das Bedürfnis das Baby zu beschützen und seine Bedürfnisse zu befriedigen. Unbewusst setzt das Kind angeborene Verhaltensweisen wie Weinen oder Anklammern ein, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen und die jeweilige Bezugsperson aus sich aufmerksam zu machen und von ihr Zuwendung einzufordern. Eltern reagieren ebenfalls intuitiv auf die Signale ihres Kindes, sie versuchen es zu trösten, seinen Hunger zu stillen und suchen ihrerseits den Körperkontakt. So entsteht nach und nach eine tiefe Bindungsbeziehung.
Diese ist wichtig, damit das Kind das Gefühl hat in Gegenwart seiner Eltern sicher zu sein und sich frei entfalten zu können. So entwickelt es auch Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten, kann soziale Beziehungen knüpfen und mit Stress konstruktiv umgehen. Eine sichere Bindung ist also wichtig, damit ein Kind sich altersgerecht und gesund entwickeln können. Exploration und Bindungsverhalten bedingen sich wechselseitig: Kinder brauchen emotionale Sicherheit und Stabilität um ihre Umwelt erforschen und damit Lernerfolge erringen zu können.
Unsicher gebundene Kinder hingegen haben wenig Urvertrauen, sind psychisch labiler und werden, wie Forscher nachweisen konnten, im Jugendalter eher straffällig.
Zusammengefasst lässt sich sagen: In Belastungssituationen zeigen Kinder ein höheres Bindungsverhalten (z.B. „Fremdeln“) und ein geringes Explorationsverhalten. Fühlt ein Kind sich in seiner Umgebung sicher und wohl, kann es sich eher von seinen Bezugspersonen lösen und zeigt ein hohes Explorationsverhalten.

 

Frau Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll im Vortrag zum Thema Bindungstheorie

 

Welche Bindungstypen gibt es?

Mary Ainsworth entwickelte einen Test um die Qualität der Bindung zwischen Kleinkindern und ihren Müttern zu erforschen. Die teilnehmenden Kinder waren zwischen 12 und 18 Monaten alt. Das Testszenario sah folgendermaßen aus:

Mutter und Kind wurden in einen Raum mit Spielzeug geführt. Die Mutter las ein Buch, während das Kind begann sich dem Spielzeug zuzuwenden. Eine fremde Frau betrat den Raum und nahm Kontakt zum Kind auf. Dann kam es zu einer Trennung, die Mutter verließ den Raum. Nach kurzer Zeit kam diese zurück. Es erfolgte eine zweite Trennung, die fremde Frau blieb beim Kind bis die Mutter wiederkam.
Die Kinder reagierten im Experiment sehr unterschiedlich auf die für sie ungewohnte Situation. Daraus leitete Ainsworth ab, dass es vier verschiedene Bindungstypen gibt:

 

1. Bindungstyp A: die unsicher vermeidende Bindung

 

Die Kinder spielten ungerührt weiter, als ihre Mutter den Raum verließ. Sie wirkten auf den ersten Blick selbstbewusst und selbstständig, auf die Rückkehr der Mutter reagierten sie fast gleichgültig.
Das Verhalten der Kinder zeigt jedoch, dass sie nicht sichert gebunden sind. Sie haben in den ersten Lebensmonaten die Erfahrung gemacht, dass die Eltern eben nicht zuverlässig auf ihre Bedürfnisse eingingen. Daraufhin gewöhnten sich die Kinder an ihre Gefühle nicht offen zu zeigen und entwickelten ein negatives Selbstbild.

 

2. Bindungstyp B: die sichere Bindung

 

Sicher gebundene Kinder protestierten mit Weinen und Schreien, als die Mutter im Experiment den Raum verließ. Kehrte sie zurück, reagierten die Kinder jedoch mit Freude und Erleichterung und vertieften sich schnell wieder in ihr Spiel.
Kinder, die dieses Bindungsverhalten zeigen, haben Vertrauen zu ihren Bezugspersonen entwickelt und Verlässlichkeit erfahren, was deren Eingehen auf die eigenen Bedürfnisse angeht. Fühlt sich das Kind sicher, kann es sich frei entfalten und seine Umwelt erkunden.

 

3. Bindungstyp C: die unsicher-ambivalente Bindung

 

Kinder, die diesem Bindungstyp zugeordnet werden können, zeigen ein ambivalentes Bindungsverhalten. Sie könnten sich im Experiment auch nach der Rückkehr der Mutter nicht entspannen und suchten ihre Nähe.
Der Grund liegt vermutlich darin, dass die Reaktionen auf die Bedürfnisäußerungen des jeweiligen Kindes unterschiedlich ausfiel. Mal gingen die Eltern liebevoll auf das Kind ein, ein anderes Mal reagierten sie nicht oder sogar ablehnend.
Als Folge versucht das Kind die Trennung zu verhindern, reagiert ängstlich, passiv und verunsichert.
 

4. Bindungstyp D: die unsicher-desorganisierte Bindung

 

Die betreffenden Kinder reagierten widersprüchlich auf die Rückkehr der Mutter nach der Trennung. Sie handelten konfus, zeigten Stimmungsschwankungen oder sogar Aggression gegen die Mutter.
Man geht davon aus, das Kinder mit einer unsicher-desorganisierten Bindung häufig traumatisiert sind und bestimmte Ereignisse in ihren ersten Lebensmonaten nicht verarbeiten konnte.

Die Studien zeigen deutlich, welch großen Einfluss die Bindung zu den Bezugspersonen auf die Entwicklung des Kindes hat. Bowlby spricht sich nicht gegen eine Betreuung von Kleinkindern außerhalb der Familie aus, betont aber die Bedeutung einer sensiblen und bedürfnisorientierten Eingewöhnung. Die Eltern als „sichere Basis“ spielen dabei die entscheidende Rolle.

 

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