Fallbeispiele Kindeswohlgefärdung

 

Alle Kitas, Schulen und Jugendeinrichtungen haben die gesetzliche Pflicht darauf zu achten, dass die ihnen anvertrauen Kinder in einem sicheren, gewaltfreien Umfeld gesund und altersgerecht aufwachsen. Fallbeispiele zur Kindeswohlgefährdung können dir dabei helfen im Ernstfall zu erkennen, ob ein Kind deine Hilfe braucht.

 

Kindeswohlgefährdung? – Fallbeispiele und Risikofaktoren
 

Auch wenn die Rechtslage eindeutig zu sein scheint, ist die Beurteilung einer möglichen Kindeswohlgefährdung in der Praxis schwer. Das Thema ist hochemotial und bei der Beurteilung und Bewertung von Beobachtungen spielen eigene Erfahrungen, Werte und Ansichten eine große Rolle.

Folgende Fallbeispiele zeigen, wie kompliziert eine Einschätzung von Kindeswohlgefährdung sein kann:

1.

Mona ist Vorschulkind und kommt seit acht Wochen nicht mehr in die Kita. Die Mutter ist allein sorgeberechtigt, in der Vergangenheit wurde das Kind aber meist vom Vater gebracht. Mona wirkte nicht vernachlässigt, nun kann Monas Bezugserzieherin Sarah aber weder die Mutter noch den Vater telefonisch erreichen.
Sarah wendet sich an ihre Leitung, die zunächst die Mutter schriftlich auffordert sich bis zu einem bestimmten Termin in der Kita zu melden. Der Termin verstreicht und alle Beteiligten haben kein gutes Gefühl bei der Sache – niemand glaubt, dass Monas Leben in Gefahr ist, aber Sarah vermutet, dass die Mutter möglicherweise psychische Probleme hat. Zudem scheint nicht geklärt zu sein wer sich eigentlich um das Kind kümmert. Sarah füllt mit ihrer Leitung die KiWo-Skala (siehe unten) aus. Die Auswertung ergibt zunächst eine „geringe Gefährdung“. Da aber weiterhin kein Kontakt zu den Eltern aufgebaut werden kann entschließt sich die Leitung den Träger und anschließend das Jugendamt zu informieren

 

2.

Jason (4,5 Jahre) erzählt in der Kita, er schlafe häufig bei seiner Oma, weil die Mama nachts arbeiten muss.
Jasons Mutter ist in der Regel freizügig gekleidet, was einigen Eltern und auch pädagogischen Fachkräften negativ auffällt.
Jason ist ein altersgerecht entwickeltes Kind, er hat soziale Kontakte, wirkt gepflegt und emotional stabil. Trotzdem meldet sich das Jugendamt kurze Zeit später bei der Kita und möchte Jasons Bezugserzieher sprechen. Es hat eine Meldung gegeben, dass Jason in prekären Verhältnissen lebe, weil die Mutter als Prostituierte arbeite. Erzieher Aaron berichtet wahrheitsgemäß, dass es aus seiner Sicht keinerlei Handlungsbedarf gebe, da Jason regelmäßig die Kita besuche und nichts in seinem Verhalten oder seinen Äußerungen darauf hindeute, dass er genaueres über die Arbeit seiner Mutter weiß oder seine Entwicklung durch diese gefährdet sei.

 

Die Fallbeispiele zeigen deutlich wie schwierig es ist einzuschätzen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder ob es sich um familieninterne Angelegenheiten handelt, die Dritte nichts angehen. Eine von der Norm abweichende Lebensweise und soziale Probleme können ein Kind zwar belasten, sind aber nicht strafbar. Und wie ein Kind erzogen wird, ist Sache der Eltern – nicht die von Lehrern oder Erziehern. Eine objektive Einschätzung, ob das Wohl eines Kindes gefährdet sein könnte, ist also in vielen Fällen sehr schwierig.

Dennoch gibt es einige Anhaltspunkte die Fachkräfte helfen können, eine entsprechende Bewertung vorzunehmen. Grundsätzlich ist zum Beispiel davon auszugehen, dass eine Gefahr für ein Kind dann besteht, wenn durch Handlungen und Unterlassungen der Sorgeberechtigten und wichtigsten Bezugspersonen dessen gesunde Entwicklung infrage gestellt werden kann.
Es geht also nicht um einmalige Vorfälle, sondern um die Bewertung der Gesamtumstände, in denen ein Kind aufwächst. Meist sind es mehrere Faktoren, die bei der Bewertung einer Gefahrenlage miteinbezogen werden sollten. Dazu gehören

 

  • psychosoziale Faktoren (Armut und materielle Not, sozialer Abstieg, Leistungsdruck, Isolation, beengte Wohnverhältnisse, alleinige Verantwortung eines Elternteils für das Kind),
  • elterliche Risikofaktoren (Sucht, Krankheiten, Konflikte in der Partnerschaft, eigene Gewalterfahrungen, sehr junge Eltern, Überforderung mit der Elternrolle, geringes Bildungsniveau),
  • auf das Kind bezogene Risikofaktoren (eine ungeplante und ungewollte Schwangerschaft, viele Geschwister, prä- und postnatale Depressionen, Probleme in der Schwangerschaft oder ein Trauma während der Geburt, eine Krankheit oder Behinderung des Kindes)

 

Oft wirken mehrere Faktoren in einander und Krisensituationen können ausschlaggebend sein, dass eine Gefahr für Kind besteht.

Ebenso komplex wie die Gründe dafür, dass Kinder gefährdet sind, können die Anzeichen sein. Verletzungen und blaue Flecken sind auf den ersten Blick zu erkennen und auch Kinder mit einem ungepflegten Äußeren fallen schnell auf. Aber Angst, Aggression oder Teilnahmslosigkeit, also psychische Probleme die mit nahezu jeder Form der Kindeswohlgefährdung einhergehen, können auch andere Gründe haben. Daher gilt für pädagogische Fachkräfte, dass sie möglichst genau hinschauen sollten, wenn sich ein Kind offensichtlich nicht wohl fühlt. Hier helfen Empathie, Geduld und das Signal, dass jedes Kind in einer Einrichtung gehört und gesehen wird, wenn es Sorgen hat.

 

Formen und Merkmale der Kindeswohlgefährdung
 

Kindeswohlgefährdung und Missbrauch hat viele Gesichter. Um einschätzen zu können, ob eine Gefahrenlage vorliegt, sollten pädagogische Fachkräfte wissen, welche Anzeichen darauf hinweisen können.
 

Mögliche Anzeichen für sexuellen Missbrauch:

Stimmungsschwankungen, sexualisierte Sprache oder unangemessenes sexualisiertes Verhalten, Verletzungen im Genitalbereich, Angst, Vermeidung des Kontaktes zu bestimmten Orten

Mögliche Anzeichen für Gefährdung der körperlichen Sicherheit:

Verletzungen, die Kinder sich nicht selbst zugezogen haben können  an Rücken, Gesäß, Handgelenken usw.

Mögliche Anzeichen für Gefährdung der emotionalen Sicherheit:

Rückzug, Ängstlichkeit, Wut, geringes Selbstwertgefühl

Mögliche Anzeichen für die Gefährdung der kognitiven Entwicklung:

Kind besucht Kita bzw. Schule nicht regelmäßig oder bleibt ganz fern, Kind ist nicht altersgerecht entwickelt (obwohl keine Behinderung/Entwicklungsverzögerung vorliegt) und wird offensichtlich nicht gefördert

Mögliche Anzeichen für unzulängliche Wohnverhältnisse:

Mangelnde Hygiene, Unterernährung, schlechte Zähne, keine ausgewogene Ernährung

Mögliche Anzeichen für fehlende gesundheitliche Versorgung:

U-Untersuchungen werden nicht wahrgenommen und/oder Impfungen fehlen, Krankheiten werden nicht behandelt

Mögliche Anzeichen auf Substanzmissbrauch der Eltern:

Verhalten der Eltern wirkt unangemessen (apathisch, fahrig, depressiv, aggressiv, …)

Mögliche Anzeichen dafür, dass ein Kind Zeuge von Gewalt wurde:

Traumatisiertes Verhalten (Apathie, Stimmungsschwankungen, Angst, …)
 

Wichtig ist zu wissen, dass Verhaltensänderungen bei Kindern nicht immer Folge einer akuten Kindeswohlgefährdung sind. Auch Entwicklungsschübe, Krankheiten, Behinderungen oder einmalige negative Erlebnisse können dazu führen, dass Kinder sich anders verhalten als gewohnt.

Pädagogische Fachkräfte sollten alle vermeintlich ungewöhnlichen Beobachtungen dokumentieren und im kollegialen Austausch diskutieren- so lassen sich Fehlinterpretationen vermeiden und jedes Kind kann sicher sein, dass es Hilfe bekommt wenn es sich in einer Notlage befindet.

 

Was bedeutet „Seelische Kindeswohlgefährdung“? – Fallbeispiele
 

Blaue Flecken an Stellen, an denen Kinder sich in der Regel nicht durch eigene Unachtsamkeit verletzen oder auffällige Rötungen im Genitalbereich sind Anzeichen für Kindeswohlgefährdung, die sicherlich jeder pädagogischen Fachkraft auffallen werden.
Schwieriger wird es, wenn eine seelische Kindeswohlgefährdung vorliegt. Diese lässt sich nur aus dem Verhalten des Kindes ableiten oder kann bei älteren Kindern anhand von Aussagen und Schilderungen vermutet werden.
 

Eine seelische Kindeswohlgefährdung liegt vor,

  • wenn ein Kind eingesperrt, schikaniert und/oder gedemütigt wird,
  • wenn dem Kind systematisch Angst gemacht wird,
  • wenn innerhalb der Familie ein Kind dem anderen ständig vorgezogen wird,
  • wenn man das Kind isoliert, ihm wichtige soziale Kontakte verwehrt,
  • wenn das Kind ständige Herabsetzung erfährt, es beschimpft und verbal angegangen wird,
  • wenn es zu häufigen Drohungen und Einschüchterungen kommt,
  • wenn Erwachsene oder ältere Kinder in Gegenwart anderer abfällig über das Kind reden,
  • wenn Kinder Gewalt sehen bzw. miterleben

 

Macht ein Kind regelmäßig eine oder mehrere der oben genannten Erfahrungen kann von seelischem Missbrauch gesprochen werden. Die Folgen sind häufig nicht weniger schlimm für das Kind und seine Entwicklung als physische Gewalterfahrungen, Venachlässigung oder sexueller Missbrauch.
 

Das zeigen auch folgende Fallbeispiele für eine seelische Kindeswohlgefährdung:
 

  1. Leen (6,0) lebt mit ihren Eltern und mehreren älteren Geschwistern in einer kleinen Wohnung. Die Familie stammt aus Syrien und hat in Deutschland Asyl beantragt.

    Leen ist sehr zurückhaltend, sie spricht aber immer besser Deutsch, seit sie vor einem Jahr einen Kita-Platz bekommen hat. Auf ihre Eltern trifft das nicht zu- die Kommunikation mit Mutter und Vater gestaltet sich aufgrund der Sprachbarriere schwierig und immer häufiger haben die pädagogischen Fachkräfte das Gefühl, die Familie wolle den Kontakt zu Deutschen meiden.

    Zudem kapselt sich Leen immer mehr von den anderen Kindern ab, wirkt traurig und ängstlich. Erzieherin Elif ist selbst gläubige Muslima, trägt ein Kopftuch und versucht Leens Vertrauen zu gewinnen. Leen erzählt Elif, dass der Vater die älteren Schwestern schlägt und als „Ungläubige“ beschimpft, weil diese kein Kopftuch tragen möchten. Leen selbst darf das Haus nur verlassen, wenn sie in die Kita geht, wenn sie das Wort ergreift ohne angesprochen zu werden droht der Vater damit sie im Keller einzusperren.

 

  1. Leo (5,3) lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter und der älteren Schwester Anna zusammen. Während bei Anna eine Hochbegabung diagnostiziert wurde, tut sich Leo schwer damit Dinge zu verstehen und sich zu merken.

    Als er in der Kita seinen Namen auf ein Bild schreiben soll und es nicht ohne Hife schafft springt er plötzlich auf und beginnt seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Dabei weint er laut und lässt sich kaum beruhigen. Leos Bezugserzieherin ist schockiert.

    Als sich Leos Ausbrüche häufen, wenn er in irgendeiner Situation scheitert, bittet die Erzieherin Leos Mutter zum Gespräch. Diese gibt zu Leo zu oft mit seiner Schwester zu vergleichen und ihn verbal herabzusetzen. Sie fühlt sich überfordert mit zwei Kindern und droht Leo damit ihn ins Heim geben zu müssen, wenn er sich nicht mehr Mühe gibt sich konform zu verhalten.

 

Fallbeispiel Kindeswohlgefährdung mit Lösung
 

Die oben genannten Beispiele zeigen, wie unterschiedlich sich ein möglicher seelischer Kindesmissbrauch äußert. Auch wird deutlich, dass innerfamiliäre Risikofaktoren (Flucht, religiöse und kulturelle Differenzen, Überforderung mit den Erziehungsaufgaben) entscheidend dazu beitragen, dass das Kindeswohl gefährdet sein kann.
Wie aber geht es weiter, wenn pädagogische Fachkräfte in der Praxis mit den oben genannten Szenarien konfrontiert werden?
Im Fall von Leen ist es wichtig, dass Erzieherin Elif sich weiterhin um das Vertrauen des Mädchens bemüht. Nach dem Gespräch sollte sie sofort alles Gehörte dokumentieren und eine kollegiale Fallberatung mit ihrem Team durchführen – möglicherweise haben noch andere Kolleg*innen wichtige Beobachtungen gemacht.
Anschließend sollte eine „Insoweit erfahrene Fachkraft“ hinzugezogen werden, die das Team in Bezug auf das weitere Vorgehen berät. Wahrscheinlich werden die Eltern zu einem Elterngespräch eingeladen. Findet dieses nicht statt oder verweigern die Eltern die Zusammenarbeit, ist es sehr wahrscheinlich, dass das zuständige Jugendamt involviert werden muss.

Im Fall von Leo scheint die Mutter selbst zu erkennen,  dass sie sich Hilfe holen muss. Entlastung könnte beispielsweise eine sozialpädagogische Familienhilfe bieten, die die Familie im Alltag unterstützt. Zudem sollte Leo therapeutische Hilfe bekommen, um seine seelischen Verletzungen aufzuarbeiten. Möglicherweise ist es auch sinnvoll, dass alle Familienmitglieder eine Familientherapie beginnen, um die Beziehung untereinander wieder zu stärken.
In jedem Fall unterstützt die „Insoweit erfahrene Fachkraft“ Erzieher*innen, Leitungen und Träger darin, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, wenn der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung besteht. Keine Kita muss diese belastende Zeit alleine durchstehen!
 

Bild: shutterstock_2311532223

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